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Raketen - Publikationen - Aufsätze

Wie die UdSSR die deutsche Rakete Aggregat 4 assimilierte

Dass die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg von deutschen Luft- und Raumfahrttechnologien profitierte, ist seit langem bekannt. Die Assimilation ist noch heute in der technischen Codierung erkennbar.

Schon lange vermutete ich, dass in der sowjetisch-russischen Raketentechnik die deutschen Bezeichnungen scheinbar einfach weitergeführt wurden: Die Fliegerabwehrraketen beginnen in der Werks-Codierung mit dem russischen B (dritter Buchstabe im Alphabet - gesprochen We), wie der erste Buchstabe der deutschen Rakete „Wasserfall“ (im russischen „Wodopad“). Aber auch in den Dokumenten/Zeichnungen dieser Rakete wird vom „Gerät W“ geschrieben. Weiterhin trägt das Triebwerk dieser Raketen, das C 2, das Issajew kopierte und weiterentwickelte, bis heute die deutsche Bezeichnung C = den ins russische S transskriptierte Index, woran man (fast) jedes Issajew-TW erkennt. Oder sollten das alles Zufälle sein?
Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass wir „Codejäger“ Anfang der neunziger Jahre viel Zeit dafür aufgewendet haben, in die russischen Werkskodierung der Teile der Rakete etwas hineinzudefinieren. Dieses „Hobby“ artete anfänglich in regelrechte „kriminelle Verstrickungen“ aus, als man z.B. unsere Notizbücher mit den Codierungen aus den Werkhallen von Chrunitschew beschlagnahmen wollte…
Was war uns bekannt? Mit dem russischen F (Φ) wurden und werden sämtliche Satelliten und Sonden unter der Nutzlastverkleidung einer Rakete bezeichnet (Beispiel 11Φ93 = das bemannte Mondraumschiff LOK aus der Projektreihe 7K; der bekannteste Vertreter ist das Raumschiff SOJUS in seiner entsprechenden Variante; z.B. 11F615). Was beginnt im russischen mit F und/oder hat einen Bezug zur Nutzlast? Wir hatten es nicht herausbekommen. Dass die Raketentriebwerke mit dem russischen D (Д) codiert wurden, war rechtzeitig bekannt geworden und erschien uns logisch  - dachten wir (Beispiel 11Д520 = das Vierkammertriebwerk RD-170/PД-170 der ZENITH/ENERGIJA). Heißt doch das Triebwerk auf russisch Dwigatjel und beginnt somit mit D. Während unserer Besuche bei russischen Raketenherstellerfirmen und auf dem Kosmodrom Baikonur kamen noch andere Verschlüsselungen zu Tage: Ein C (russisches S) auf den Raketenkörpern. Sofort „identifizierte“ ich es als Stufe (russisch Stupen). Durch die Dokumentationen der Raketen der ehemaligen Nationalen Volksarmee der DDR kam auch noch etwas Detailkenntnis dazu: Die Teile der Bordelektronik und Kreiselsysteme der Boden-Boden-Rakete 8K14, in westlicher Hemisphäre nur als SCUD bekannt, wurden mit dem russischen B (We gesprochen) kenntlich gemacht und Anbauteile, wie die Strahlruder (hier 8A61) mit einem A.

Überall in der Produktion werden Einzelteile, Bauteile, Baugruppen etc. mit einer recht einheitlichen Zeichnungsnummer versehen. Nachfolgend als Beispiel das Nummernsystem für die ausgelaufene Turbopumpenproduktion des Viking 5-Triebwerkes der Ariane 4-Rakete bei der ehemaligen MAN Technologie in Augsburg:

93. 4400. 00 018 Beispiel einer Zeichnungsnummer
93       Raumfahrt
 

4

    Turbopumpe
  8    

Gasgenerator und Hauptregler komplett

  9     geeichter Gasgenerator
    00  

Zusammenbauzeichnung

    01  

Einzelteile von

    99  

Einzelteile bis …

      018 lfd. Zeichnungs-Nr.

In der deutschen Raketentechnik der vierziger Jahre hatte das Heereswaffenamt bereits ein „Qualitätsmanagement“ eingeführt, das sogar jede Schraube auf „Begleitkarten“ exakt beschrieb und man innerhalb der „Lebenslaufakte“ nachzeichnen konnte, wer, wann, was, wo und wie einbaute. So bleib auch eine Sabotage durch z.B. Zwangsarbeiter oder KZ-Häftlinge kaum unerkannt. Man hatte förmlich eine ISO 9001 schon damals.
Ein von mir kürzlich entdecktes deutsches Dokument offenbart glasklar, dass sich die Russen nicht nur technische Lösungen oder personelles Know-how, sondern auch technologische Arbeitsgrundlagen, wie auch „Buchlisten“ aneigneten: Die Gliederung der „Vorratsliste für Sondergerät Nr. 906“, diese grundlegende Einzelteilliste des Aggregat 4, übernahmen die UdSSR haargenau. Wie intensiv die sowjet-russische Raketenindustrie diese deutschen Vorlagen assimilierte, offenbart sich in ihrer technischen Codierung, wie ich gleich zeigen werde.
Schon nur das Titelblatt ist ein Schlüsselelement zum Verstehen der russischen Kodierungen. Was man hier unter „Erläuterungen“ lesen kann, würde einem Experten „echt russisch“ vorkommen:
Die Codierung 8C410.
Nun heißt es aber in der „urdeutschen Fassung“:
8 ist die Bildnummer der Fotografien im Anhang des Dokuments;
C ist die Baugruppe Mittelteil;
410 ist die laufende Nummer.
Im Bild Nr. 8 wird man das zum Mittelteil zählende Bauteil 410 finden: In der fortlaufenden Buchliste ist das der „Gerüstring“, der Verbindungsflansch zwischen Schubgerüst und Außenschale des A4.
Wie man weiter unter „Baugruppen“ erkennen kann, ist die Rakete sehr logisch aufgeteilt. Doch auch die russischen Untergliederungen folgen sehr exakt dieser Einteilung: A für Anbauteile, wie Strahlruder oder die Nutzlastverkleidungen (hier „Elefant“ = der leere Sprengkopf); aber auch die Gesamtrakete (die ersten sowjetischen Raketen wurden mit A klassifiziert; z.B. 8A11 für den A4-Nachbau R-1), B für den Geräteraum und alle in ihm liegenden Steuergerätschaften, C für den Mittelteil der Rakete, D für das Triebwerk, E für das Heck...
Ein weiteres „Rätsel der sowjet-russischen Raketentechnik“ ist endlich gelöst.

Höchst aufschlussreich noch, dass im Sprengkopf der Rakete vom Typ Aggregat 4 die innen liegende Zünder, die separat eingebaut werden, mit F 36 katalogisiert wurden: Und ein F haben heute immer noch alle Nutzlasten der Russen unter der Nutzlastverkleidung in der technischen Codierung...

Olaf Przybilski

 

 

Der Originalartikel aus Luft- und Raumfahrt 2/2006