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Klaus H. Scheufelen: Mythos Raketen - Chancen für den Frieden; Erinnerungen
Bechtle Verlag, Esslingen, München, 2004; ISBN 3-7628-0573-3

Das Faszinosum der Flüssigkeitsrakete ist ungebrochen. Man könnte fast glauben, dass trotzdem nichts Neues mehr "abgeschrieben" werden kann. Doch wenn eine recht technische Veröffentlichung aus erster Hand eines dabei Gewesenen kommt, was im historikerbeherrschten Deutschland recht einmalig ist, so darf man gespannt sein.

Klaus Heinrich Scheufelen, am 30. Oktober 1913 geboren, einer der wenigen noch lebenden "Paperclipper", also ein Raketenexperte, der mit Wernher von Braun in die USA gehen durfte, legte in einem einzigartigen Buch seine Erinnerungen nieder. Aus einer Papierfabrikantenfamilie stammend, wurde er 1937 Diplom-Ingenieur für Papierfabrikation und studierte zeitgleich zusätzlich Chemie. Seine Fachkenntnisse sollen in den Sechzigern dazu führen, dass nach dem verheerenden APOLLO 1-Feuer seine Papierfabrik unbrennbares Papier und technische Wellpappe an die NASA lieferte.
Der Einstieg im Buch beginnt mit schulischer und militärischer Ausbildung. Als er 1939 zur Flak eingezogen wird, war der Weg nicht mehr fern bis nach Peenemünde. Ab Oktober 1942 war Scheufelen schließlich mitverantwortlich im Projekt Wasserfall, der größten Fliegerabwehrrakete, die Deutschland entwickelte. In den folgenden Kapiteln wird nun detailliert die Rakete, ihre Entwicklungsprobleme, die Steuerungscharakteristika und die Ideen zu einer wendigeren Abwehrrakete erläutert. Hochinteressant und sehr aufschlussreich sind hierbei Scheufelens Betrachtungen zur Treibstoffchemie und zur Optimierung des Triebwerkes.
Gerade dieser Abschnitt war so richtig nach meinem Geschmack! Stellen doch die Ausführungen vom Autor eine förmliche Klammer dar, die das von mir gesichtete Archivmaterial und sichergestellte Hardware anschaulich verbindet.

Die damalige TH Dresden war ja der Entwickler mehrerer Brennkammerköpfe, auch der Wasserfall, den so genannten Einspritzplatten, wo beide Treibstoffe - Brennstoff und Oxydator - vermischt werden und beginnen zu verbrennen. Da beide lagerfähigen Stoffe spontan beim bloßen Berühren reagierten, musste dies recht schnell passieren, nachdem sie in den Brennraum gelangten. Ansonsten sammelte sich zu viel Treibstoffgemisch in der Brennkammer an, die dann beim Entzünden explodierte. Diese Zeitspanne bis zum Zünden, der so genannte Zündverzug, wurde bei niedrigen Temperaturen recht lang, so dass die Kammer "voll lief" und sich dann beim Entzünden der Stoffe zerstörte. Schon allein dieses kleine Problem zeigt, womit sich der Autor "rumschlagen" musste. Erschwerend kam hinzu, dass, nachdem der "Ofen" brannte, er sich nach einigen Sekunden zerlegte, weil die Entzündungsebene in Strahlrichtung hin- und herwanderte, die die Brennkammer förmlich zum Schwingen anregte. Der Grund der Wanderung wird von Scheufelen nicht genannt - man könnte chemophysikalische Effekte vermuten. Doch dieses musste abgestellt werden, was man durch zwei gegenüberstehende Düsen bewerkstelligte, die einen flächigen Schleier erzeugten. Später integrierte man schlitzartige Düsen, die den Schleier noch besser formten. Diese Schleierlamellen bewirkten, dass die Entzündungsebene sich quer zur Strahlrichtung ausbreitete.


Die im Buch zur Veranschaulichung beigefügte Zeichnung verdeutlicht leider nicht das Geschriebene (übrigens eines der wenigen "Makel" des Buches). Deshalb, gewissermaßen als Ergänzung, ein Foto der Platte mit den Bohrungen und Schlitzen.




Diese konstruktiven Ausführungen und auch die leicht konische Form des Einspritzkopfes der noch vorzustellenden Rakete "Taifun" (siehe Zeichnung) sind übrigens das Bindeglied zum überaus erfolgreichen "Einspritzring" von Heinz Bringer.
Bringer, damals in Peenemünde Mitarbeiter der Triebwerksprojektgruppe, hatte im Nachkriegsfrankreich mit ähnlichen Treibstoffen und den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen wie Scheufelen. Die Forderung, die Zündungsebene quer zur Strahlrichtung zu legen realisierte er schließlich konsequent mit einer Quereinspritzung: Der Ringinjector war geboren und brachte der ARIANE-Rakete den Erfolg.

Ein folgender Großabschnitt über mehrere Kapitel widmet sich dem Projekt Taifun - der "10-cm- Flieger-abwehrrakete", deren Projektleiter er wurde. Der Autor legt m.W. hier erstmalig dar, dass durch vorzeitigen Abschluss der Forschungsarbeiten am Triebwerk der "Wasserfall"- Rakete 1944 Zeit und Prüfstandskapazitäten genutzt werden konnten, um das Durchbrennen der (ungekühlten) Brenn-kammer am engsten Querschnitt ("Düsenhals") durch Ermittlung des Wärmeübergangskoeffizienten des Brenngases auf die Wandung zu verhindern. Dafür legte man einen Außendurchmesser der Testbrennkammer von 10 cm fest (1 Liter Volumen), der Brennkammerinnendruck wurde auf 50 atü erhöht (das Doppelte der bisherigen "Öfen") und erzielte damit 1,5 t Schub. Durch Variation der Brennzeiten und Wanddicken konnten die theoretischen Vorstellungen des Wärmeflusses in der Praxis konkretisiert werden.

Die als Anlage im Buch angefügte Arbeit von Scheufelen von 1948 aus den USA legt detailliert die Ergebnisse dar (für die breite Leserschaft wäre eine deutsche Übersetzung hilfreich gewesen), die auch heute noch Arbeitsgrundlage für Konstrukteure ist. Aus der optimierten Brennkammer, rund 90 Brenntest manifestieren dies, schlug Scheufelen im Sommer 1944 eine billige, 21 kg schwere Fla-Salven-Rakete vor, die im Einsatz als "Taifun" nach nur 1,33 s Brennzeit 1150 m/s erreichte, nach 14,4 s 10 km und nach 30 s 13,4 km weit flog.
Begegnungen mit KZ-Häftlingen, Kriegsende, Neuanfang in den USA und Philosophieren über begrenzte Kriege in unserer Zeit verdeutlichen das Bemühen des Autors, den Meinungsmachern in Deutschland den Wind aus den Segeln zu nehmen. Mit kurzen prägnanten Sätzen erläutert der Autor rückblickend, was durch Peenemünde erreicht wurde: "Die Entwicklung des A4 war nicht für ein Wirksamwerden im Zweiten Weltkrieg geplant. Sie machte militärisch keinen Sinn. Erst nach dem Rückschlag von Stalingrad wurde sie zu propagandistischen Zwecken eingesetzt" (S. 148ff). Es bleibt hier wieder für den Rezensenten die Erkenntnis, dass man heute immer noch diese Rakete benutzt, um sie propagandistisch einer "Zweckbestimmung" unterzuordnen.
Scheufelen legt glasklar dar, dass die nuklearbestückten Raketen auf beiden Seiten des "Eisernen Vorhangs" den dritten Weltkrieg verhinderten und heute durch die bereits in Peenemünde angestrebte Punktgenauigkeit von raketengetriebenen Projektilen die "Atomrakete" überflüssig geworden ist: "(Es) ... ist ein Vorgang eingeleitet worden, der es ... möglich macht, ein Land ohne wesentliche Verluste auf beiden Seiten stillzulegen. Es wird für Diktatoren immer schwerer werden, die Welt durch Vernichtungswaffen zu bedrohen. ... Keine Entwicklung hat mehr zum Frieden beigetragen als die Raketenentwicklung" (S. 149).

Dieser letzte Satz ist das Vermächtnis von Dr.-Ing. Klaus Heinrich Scheufelen, das in seiner grundstürzenden Aussage hier in Deutschland möglicherweise erst von nachfolgenden Generationen breit gewürdigt werden wird.

© Przybilski; aus Raketen*Post Nr. 29

 

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